Haus der Stadtgeschichte

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Markus Bach schreibt für das Corona-tagebuch

Wirklich schön verrückt


Manchmal habe ich das Gefühl, gleichzeitig in zwei Welten zu leben, so, als wollte ich den gleichen Satz gleichzeitig einmaĺ mit und einmal ohne Komma schreiben und zwei verschiedene Welten schaffen, wo vorher doch nur eine war, zumindest gleichzeitig.

Vor allem, wenn ich mich an Vor-Corona-Zeiten erinnere, versuche ich, den Menschen von früher in meinem Gedächtnis Masken von heute zu verpassen, als könnte ich sie selbst in meiner Erinnerung ohne Maske anstecken.

Dabei weiß ich, dass sich mein Urlaub von vor fünf Jahren nicht mehr ändern lässt, obwohl wir glauben, wenn wir alte Texte heute umschreiben, könnten wir auch die Wirklichkeit von damals verändern. Wo ist sie nur geblieben – die Wirklichkeit? Aber wirklich!

Dann wieder kommt es vor, dass ich meine Zukunft doppelt auslebe: einmal mit Maske und Abstand und dann wieder umarmend und mit ganzer Mimik ausgestattet.

Ich trenne dabei säuberlich zwischen den Menschen, die mir in Zukunft wichtig sein sollen und schenke ihnen dafür auch sehr viel Distanz in meiner Ausschau auf das spätere Leben mit ihnen.

Den weniger wichtigen in meiner Zukunft werde ich dafür aber wirklich ganz und gar nicht gerecht. Die können sich ruhig anstecken an mir, die bleiben außen vor, wenn ich sie besitzergreifend umarme und mir ihre Nähe in Zukunft aneignen werde, wie damals, vor Corona, als ich sie mit Verachtung strafte.

Oder stimmt das etwa gar nicht? Wird das Leben in Zukunft etwa doch wieder wie in der Vergangenheit sein? Wenn ich nur lange genug daran glaube, dann werde ich meine Zukunft unter Ausklammerung meiner Gegenwart mit der Wirklichkeit meiner Vergangenheit bestimmt wieder umschreiben können? Werde ich etwa wieder alle umarmen können, die, die ich mag und die, von denen ich mir nur Vorteile erhoffte?

Nein, nein, es wird nicht gehen. Erst kürzlich habe ich ja die Texte meiner Vergangenheit umgeschrieben, als wären sie Gegenwart. Mein Heute hat mich vereinnahmt. Da bleibt mir die alte Vergangenheit nicht mehr als Zukunft erhalten.

Ich schwindele, oder schwindelt mir?

In manchen Träumen vermischen sich meine Zukünfte wirklich mit und ohne Corona und ich weiß nicht mehr, wen ich noch liebe und wem ich nur auf die Pelle rücken will, um sie in und mit meiner Nähe auszunutzen.

Jetzt bin ich aufgewacht aus meinen Tagträumen, ziehe meine Maske aus und gehe auf die Fastnacht, stürze mich mit meiner ganzen Mimik-Leiblichkeit ins maskenlose Treiben, so als wollte ich ohne Präser Liebe machen, weil mir gerade danach ist, nicht an AIDS zu denken.

Doch dann, auf dem Weg in den gitterlosen Käfig auf dem Kornmarkt komme ich schon nach ein paar Metern in der Lessingstraße an einem Gartenzaun vorbei, an dem noch bis vor kurzem hinter Klarsichtfolien an Wäscheklammern mindestens elf ganz verschiedene bunte Kinderbilder vom wirklichen Leben hingen.

Jetzt schmachtet da einsam und verloren vom Wind zersaust ein handgeschriebener, traurig-verblichener Zettel, auf dem die Frage steht:

„Wer hat unsere schönen Bilder abgerissen – WARUM?“

Mir kommen fast die Tränen, obwohl ich gerade selbst wenig selbstloses im Schilde führte. Ich kehre um, mir ist die Freude auf die maskenlose Wollust am käfigfreien Kornmarkt der Eitelkeiten vergangen.

Ich bin am Boden zerstört nach so viel Egoismus.

Doch zwei Wochen später komme ich wieder an diesem Gartenzaun an der Ecke Lessingstraße/Rheinstraße vorbei.

Nun prangen wieder mindestens elf selbstgemalte Bilder unter Folie an bunten Wäscheklammern am alten Jägerzaun und auf dem letzten Zettel oder war es doch der erste Zettel, woher kam ich eigentlich und habe wie auf den Zettel geschaut? - als ich las:

„Wir malen weiter die Welt bunt"

Wirklich schön verrückt.

Wirklich, schön verrückt.

Wirklich schön, verrückt.

Wirklich, schön.

Wirklich schön.

Wirklich.


Markus Bach

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