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In der "alten Welt" scheint die Krise weit weg - Corona-Tagebuch
Corona-Zwangsurlaub
Die Corona-Krise erfordert die Schließung des Stadtarchivs. Gerade erst aus unseren engen, für ein Archiv, das Kulturgüter bewahrt, wenig geeigneten Räumlichkeiten ins Haus der Stadtgeschichte gezogen, verhindert eine unsichtbare Gefahr, dass wir unsere bekannten Nutzer und neu gewonnenen, neugierig gewordenen Interessenten mit unseren Beständen vertraut machen können. Kaum der Öffentlichkeit übergeben, steht der Betrieb auf Anordnung still. Die Kollegen und ich bauen daraufhin unsere massenhaft angefallenen Überstunden ab, nehmen den Urlaub von letztem Jahr. Ein unfreiwilliges Durchatmen nach all den Anstrengungen der vergangenen 12 Monate ohne wirkliche Pausen. Trotz Zwang willkommen, lässt es uns auf unser fremdgewordenes Menschsein zurückfallen.
Zuhause in meiner Welt, in der sogenannten „alten Welt“, scheint die Krise weit weg. Um mich herum die erwachende Natur, ein dauerhaft blauer, blank wirkender, fast azurner Himmel. Für die Jahreszeit ungewöhnlich viele warme Sonnentage - vertraute Geräusche. Den Garten bestellen, die Obstbäume schneiden, Gras mähen, Hof abflämmen, Holz einholen, aufräumen und erledigen, was schon lange liegt.
Der Corona-Krise begegne ich nur durch das Fernsehen oder Radio - fassungslos was ist, was sein könnte! Alles fährt runter – verlangsamt sich – entschleunigt, macht Platz zum Atmen und Denken und Innehalten.
Bald ist Ostern, die Heilige Woche, und erstmals keine Gottesdienste. An Palmsonntag kein Einzug in die Kirche, keine festlichen Lieder, keine Eucharistie, keine Weihe der Palmen und keine Gemeinschaft. Stattdessen Online-Gottesdienst aus der Kirche mit dem vertrauten Pfarrer. Die geweihten Palmen liegen vor der Kirchentür zum Abholen bereit. Schnell noch die Gräber auf dem Friedhof besucht, ein kurzes Gedenken und wieder nach Hause in die schützenden vier Wände. Irgendwie ist es doch etwas unheimlich da draußen.
Einmal die Woche im Haus der Stadtgeschichte nach dem Rechten sehen. Die Straßen überraschend leer, kaum Autoverkehr. Vereinzelt alte Menschen mit Masken vor Mund und Nase. Hinweisschilder in geschlossenen Geschäften, sonst Hinweise: bitte Abstand halten, Abstand kann Leben retten, Hände desinfizieren. Das Einkaufen geht schnell, nur das notwendigste und wieder kein Toilettenpapier, Mehl und Nudeln ... sogar Hefe fehlt. Hätte nicht gedacht, dass es noch so viele Frauen gibt, die sich die Mühe machen Hefekuchen und Hefegebäck herzustellen, die Schachteln in den Kühlregalen der Diskounter sind leer, auch der Laden am Haus der Stadtgeschichte hatte keine Trockenhefe mehr. Ist Vorratshaltung ein Fremdwort geworden? Im Supermarkt geht man sich aus dem Weg, schleicht um das gewünschte Produkt, wartet. An der Kasse Spuckschutzvorrichtungen, Kartenzahlung, auf dem Boden regeln Klebebänder den Abstand zum Vordermann. Das kleine Café im REWE ist geschlossen – die umgedrehten Stühle sind zu Barrikaden geworden, die Ausgangstür ist verrammelt.
Ein Glück, dass es zuhause eine kleine Bäckerei gibt, die frische Hefe verkauft und der Hofladen immer frisches Gemüse und Obst anbietet. Land so scheint es, ist in der Krise ein Standortvorteil. Versorgung gesichert, Nachbar im Blick, keiner bleibt auf der Strecke, und: Bewegungsfreiheit. An Sonntagen begegnet man auf den vertrauten Wander- und Spazierwegen plötzlich Unbekannten. Picknick im Grünen mit Mama, Papa und Kindern. Das eigene Essen und Trinken dabei – Musik konkurriert mit Vogelgezwitscher.
Im Dorf haben noch manche Nutzgärten. Die Angst, dass die Versorgung nicht gewährleistet sein könnte, rückt deren Bedeutung in ein anderes Licht. Keine Last, kein Freizeitkiller sondern Garant für die eigene Nahrungsmittelproduktion. Frühbeete allenthalben, sehr früh. Zugereiste pachten oder kaufen Gärten, die ganz schnell kultiviert werden. Die ersten Pflänzchen sind in der Erde, Puffbohnen und Erbsen gelegt, für Obststräucher noch schnell ein Plätzchen gesucht. Überall wird zudem gewerkelt – Zwangsurlaub verleiht Kreativität. Der Lärm verstärkt jedoch die Ruhe, die sich übers Land gelegt hat. Viel weniger Auto- und Zugverkehr, keine Flugzeuge am Himmel und, seltsam, keine Kondensstreifen. Erinnert mich an die Samstage meiner Kindheit, als überall geschäftiges Treiben im Dorf herrschte und nicht wie heute nur ab und an ein Traktormonstergerät hindurchfährt und am Nachmittag die Fußballübertragungen plärren, wenn die Männer ihre Autos fürs Wochenende aufhübschen.
Fortsetzung folgt
F.B.-G., 17. Mai 2020
Foto. In der ersten Phase des Lockwowns kam das öffentliche Leben fast zum Erliegen, gähnende Leere auf dem Kornmarkt. Foto: Hansjörg Rehbein