Haus der Stadtgeschichte

Neues

Ein weißes kleid für ein kleines weihnachtsspiel

18. Dezember: Da kennst du das Christkind schlecht


„Bis ich Asche werde“ … Ich hoffe, daß dieses Los, das sogenannten Nichtariern drohte, Else Argulnik erspart geblieben ist. Sie war die jüngste Tochter eines Kantors der jüdischen Gemeinde unserer Stadt. Als ihr Vater im Ruhestand lebte, führte die Familie „Pension Argulnik“ in der heutigen Badeallee. Ich meine noch von der braunen Herrschaft gehört zu haben, Else wollte – als Zionistin –von Frankfurt aus, wo sie damals lebte, nach Palästina gehen. Hoffentlich hat sie diesen Plan rechtzeitig verwirklicht!

Als sich unserem Leben noch fast ausschließlich Perspektiven froher Erwartungen öffneten, hatte ich ein Erlebnis, das mit Else zusammenhing. Wir waren etwa neun Jahre alt; Weihnachten stand vor der Tür. Die Feier in unserer Klasse sollte die letzte Weihnachtsfeier für uns in der Hofgartenschule sein. Damals besuchte man nämlich die Grundschule nur drei Jahre, wenn man zum Lyzeum überwechselte. Wir hatten eine tüchtige, gestrenge Lehrerin: Luise Meyer. Sie entstammte einer schon lange in Bad Kreuznach ansässigen getauften jüdischen Familie, die sehr angesehen war. Es bedeutete immer angenehme Abwechslung, wenn ich zusammen mit einer Klassenkameradin während einer Schulstunde Hefte in die Kurhausstraße bringen durfte, wo Fräulein Meier im Doeschen Hause wohnte. Die freundliche Mutter unserer Lehrerin schenkte uns dann jedes Mal ein Stück Schokolade.

Eines Morgens fragte Fräulein Meyer: „Wer von euch hat ein weißes Kleid?“ Ein paar Finger zeigten hoch. Meine Hand blieb auf der Bank liegen, denn ich besaß kein weißes Kleid, nur eine weiße Bluse. Sie gehörte zu meinem „besten Stück“, einem piekfeinen hellen Ensemble mit Flügelärmeln und Taftblenden. Die Schneiderin, Fräulein Delaveaux, hatte es nach dem Heft „Chic de Paris“ genäht. Wie gesagt, es war sehr hell, doch eben nicht weiß. Die Kinder, die sich gemeldet hatten, erhielten Blätter mit Versen, Rollen für ein kleines Weihnachtsspiel zwischen Christrose, Efeu und Immergrün. Else Agulnik erhielt die große Rolle der Christrose. Merkwürdigerweise jedoch auch ich, die ich mich nicht gemeldet hatte. Daheim sollten wir schon einmal alles durchlesen und versuchen, ein Stückchen davon zu lernen. Mir brauchte man das nicht eigens zu sagen. Kurz nachdem ich Schularbeiten gemacht hatte, „saßen“ die zahlreichen Verse bereits. Was mich wirklich interessierte, behielt ich damals beinahe schon nach erstem Durchlesen.

Am nächsten Morgen stellte sich heraus, daß Else keine einzige Zeile gelernt hatte. Mich dann dran zu nehmen, was natürlich geschah, bedeutete, daß ich in die Rolle der Christrose hineinschlüpfte, um mit ausgesprochener Freude darin zu leben. Eine Panne konnte es dabei überhaupt nicht geben. Merkwürdigerweise fragte Fräulein Meyer noch einmal: „Wer von euch hat ein weißes Kleid?“ Ich war von den Versen der Christrose noch berauscht und fühlte, daß sie zu mir gehörten. Blitzschnell kombinierte ich: man kann einen weißen Rock an die weiße Bluse nähen, dann ist es ja ein weißes Kleid. Schon waren Hand und Finger oben – schon war entschieden, daß ich Christrose sein solle. Ich atmete auf.

Daheim indes erhielt ich einen gewaltigen Dämpfer. Solche Eigenmächtigkeit, was mir einfalle! Mutter wollte die Lehrerin aufklären. Allein Vater, der immer alles am besten verstand, nahm sich seine eigenwillige Tochter erst einmal unter vier Augen vor. Ich besäße doch gar kein weißes Kleid, da sei der erhobene Finger eine Unwahrheit gewesen.

„Ja, aber wenn ein Rock dran kommt“ – ich schluckte – an die Blus‘, dann is‘ es doch ein weißes Kleid.“ Hatte es um Vaters Mund gezuckt? Als ich noch einmal genau hinschaute, war sein Gesicht ernst.

„Und die Else, die will das Gedicht ja gar nit lernen, un‘ sie glaubt auch nit ans Christkind. Der Messias käm‘ ja erst, meinen die Juden“.

„Richtig“, sagte der Vater, „aber das ist Sache der Juden. Nur kennst du das Christkind schlecht, wenn du meinst, daß es aufpasst, ob jemand Christ, Jude oder Heide ist. Es ist ja für alle Menschen auf die Welt gekommen, ob sie das wissen, ob sie es erkennen oder nicht … Und jetzt sag mir mal deine Verse.“

Das tat ich nur zu gern. „Hm, das machst du wirklich ordentlich. Ich will mal mit der Mutter sprechen.“

Kurzum, ich dürfte Christrose sein. Nach der Feier legte mir Rektor Müller von der Hofgartenschule eine Hand auf den Kopf: „Du hast deine Sache sehr gut gemacht.“ Da spürte ich, daß wirklich alles im Gleichgewicht war.

Indirekt gehört zu dieser Geschichte – und zur weihnachtlichen Besinnung – daß ich noch das Schicksal meiner Lehrerin erwähne. Sie ist als unglückliches Opfer der Judenverfolgung von Berlin aus, wo sie im Ruhestand lebte, verschleppt worden und dürfte wohl kaum mit dem Leben davongekommen sein.

Anne Tesch

Foto Nachlass Gamp

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