Haus der Stadtgeschichte

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Adventskalender im Haus der Stadtgeschichte

1. Dezember: Anne Teschs Gedanken über die „stillste Zeit des Jahres“


Heute, 1. Dezember, „öffnen“ wir unser erstes Türchen mit den Gedanken, die sich Anne Tesch über „die stillste Zeit des Jahres“ gemacht hat:

Wenn das Glöckchengeläut der letzten Mostfuhrwerke im Spätherbst verklungen und der Federweise getrunken war, begann früher die stillste Zeit des Jahres. Die Leute begannen dann nach innen zu leben. Zeit des Atemholens, der Vorbereitung. Zwar hob sich aus dem ruhigen Gleichmaß der Tage etwa noch ein schönes Konzert oder eine andere Veranstaltung, sonst aber blieb man daheim, vereint beim Schein der Lampe. Es gab kaum Autos zum Herumflitzen, keine Flimmerkiste, in die alle unentwegt starrten. Wenn man - Jahre später erst - in der Wochenschau des Kinos sah, was überall so vor sich ging, bekamen die aufgenommenen Bilder im „Fernsehen eigener Phantasie“ allmählich umso größere Tiefenschärfe, je öfter man sie heraufbeschwor. Dadurch blieben sie besser haften, während heute leicht ein Eindruck vom anderen verdrängt wird. Man unterhielt sich auch mehr zu Hause. Es wurde berichtet, erzählt, gespielt. Vielleicht las einer vor, während die anderen für Weihnachten bastelten. Handelte es sich bei einer Weihnachtsarbeit um etwas, was jemand aus der Familie nicht sehen sollte, ging man zu Nachbarn oder Freunden. Es gab ja viel weniger fix und fertig zu kaufen als heutigentags. Außerdem sah selbst bei wohlhabenden Leuten das Geld nicht so locker, denn es wurde ja weit schwerer verdient.

Während jetzt stinkende Autos die Luft verpesten, waren früher die Straßen in der Adventzeit von würzigen Backduft der verschiedensten Sorten von Plätzchen durchzogen. Weihnachten war damals noch ein intimes Fest, kein Fest außerhäuslicher Geschäftigkeit. Wie arm würden sich heute die damals kleineren Schaufenster mit bescheidener Dekoration ausnehmen, wie dunkel die nicht sonderlich beleuchteten Brücken und Plätze. Nur spärliche Lichtreflexe tanzten auf dem Wasser. Immerhin wurde die damalige Straßenbeleuchtung schon als Lichtfülle empfunden gegenüber noch früherer Zeit, als jeder sein eigenes Licht leuchten lassen musste, wenn er abends ausging. Dafür war es aber abends so schön still, daß man hörte, wie die Nahe gegen die Brückenpfeiler plätscherte. In den Häusern wurde noch Dämmerstunde gehalten, und sei es nur, um Licht zu sparen. Im Zimmer roch es dann wohl nach Bratäpfeln. Je mehr man sich Weihnachten näherte, desto häufiger wurden auch kleine „Vorgeschmäcker auf das Fest“ ausgeteilt in Gestalt von Weihnachtsplätzchen. Natürlich wurden auch Weihnachtslieder gesungen. Kurzum: „innendrin“ war es bei den meisten Menschen damals heller als heute, meine ich. Man kann halt doch nicht alles kaufen! Es war alles irgendwie gemütlicher, wärmer. Auch der Kornmarkt, damals noch Bismarckplatz benannt. Er war früher kleiner und intimer, zog sich doch gegenüber vom jetzigen Hotel Siebe noch eine Häuserzeile der Roßstraße hin. Es stand dort - mit Front zum Bismarckplatz-  das Manufaktur Warengeschäft Rothschild. Es war sehr bekannt. Und die damals bescheideneren Auslagen aller Geschäfte schienen uns Kindern namentlich höchst prächtig. Der heute von Reizen überfluteten Jugend würden sie eher ärmlich vorkommen.

Selbst die Schule war verwandelt in der weihnachtlichen Zeit. Nachmittags wurde fürs Weihnachtsspiel geprobt unter Leitung einiger Lehrerinnen. Einmal ließ man das von Frau Direktorin Lina Hilger zusammengestellte Krippenspiel ruhen und führte Märchen auf. Es war Dr. Marianne Kunze, die „Schneewittchen“ nach Storm und der „Wolf und die sieben Geißlein“ einstudierte. Annerose Kramer-Möllenberg - vier Klassen unter uns - war in Aussehen und Spiel das personifizierte Schneewittchen. Herta Goeke, Pfarrerstochter aus Winterburg, der Prinz, der das wieder erwachte Prinzeßchen glücklich in die Arme schloss, während die böse Stiefmutter schlimmer Strafe gewiss sein mußte. Trude Krämer spielte sie sehr glaubhaft. 1949 ist Trude in Buenos Aires an einem Gehirn-Tumor gestorben. Sie war mit ihrem Mann, dem bekannten Rechtsanwalt Dr. Georg Arfeld noch eben zur rechten Zeit emigriert.

Köstliche Geißenmutter mit ihrer hohen Stimme war Gertrud Bechtold, gute Mathematikerin unserer Klasse und spätere Ärztin. Ich höre sie noch aufgeregt und weinerlich rufen: “ O jemine, o Graus, wie sieht‘s in unserer Stube aus, in Scherben die Schüssel, auf dem Boden die Schlüssel! Und wo sind meine Geißerchen? Da kroch das Jüngste aus dem Uhrenkasten und klagte mit dünnem Stimmchen: „Der Wolf hat alle aufgefressen, nur mich allein hat er vergessen!“

 Gertrud war im „Rheinischen Hof“ zu Haus, dem mit seinen 500 Morgen größten Gutshof unserer Stadt nach dem Rittergut in der Dessauer Straße. Wer hätte damals gedacht, dass mehrere Jahrzehnte später dieser „Rheinische Hof“ von Bomben zerstört werden sollte, ausgerechnet an Weihnachten! Die Eltern Gertruds und eine Schwester waren aber ums Leben gekommen ebenso 30 Pimpfe - wie man kleine Hitler Jungen nannte - die von der Jugendherberge auf dem Kuhberg herunter gekommen waren, um sich die Stadt anzusehen! Doch auch zur Zeit der erwähnten Märchenaufführungen war Krieg, Zeit des Ersten Weltkriegs. Mehrmals war damals die Aula unserer Schule voll von verwundeten Soldaten der Kreuznacher Lazarette, die sich mit sichtlicher Freude vom Spiel der Jugend verwandeln ließ in jenen versponnenen Tagen, die der junge Goethe einmal die ihm liebste Zeit des Jahres bezeichnet hat. (Anne Tesch)


Foto: Weiße Adventszeit im Wald mit der verschneiten Ruhebank. Das Foto von Professor Kurt Johnen mutet wie ein Gemälde an und verkörpert gut das Gefühl der Stille.

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