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Auswandererglück: Von der Fischergasse in die weite Welt
„Auswanderer aus dem Kreis Kreuznach nach Übersee im 19. Jahrhundert“ ist der Titel der Doktorarbeit, für die der 29 Jahre alte Doktorand der Mittleren und Neueren Geschichte an der Uni Mainz seit zwei Jahren recherchiert. „ Das Bad Kreuznacher Stadtarchiv ist mit Dokumenten über Auswanderungen sehr gut bestückt.“ Neben dem Landeshauptarchiv in Koblenz ist für den Archiv-Stammgast aus Traisen das kleine ehemalige Pförtnerhaus am Eingang des Schloßparks die ergiebigste Quelle.
Was bewog Menschen vor mehr als 100 Jahren ihre Heimat zu verlassen? Die Hauptgründe waren weniger die tatsächliche Armut sondern die Furcht vor der potenziellen Not. So gab es Auswanderungswellen, beispielsweise nach den großen Missernten 1846/47. Vielfach wanderten Menschen aus, weil sie Familienmitgliedern oder Freunden folgten. „Auch der psychologische Faktor spielte eine große Rolle, Streit mit den Eltern oder aber auch verschmähte Liebe.“ Nicolas Kessler hat noch viele weitere interessante Details herausgefunden. Die Hälfte der über 1000, die zwischen 1816 und 1914 aus dem Kreis Kreuznach noch London auswanderten, waren Bäcker. In der Hitliste der neuen Heimatländer stand England (insbesondere London) hinter Nordamerika auf Platz zwei vor Brasilien, wo sich die meisten im südlichen Staat Rio Grande do Sul ansiedelten.
Die tatsächliche Zahl der Auswanderer ist weitaus höher als sie in den Akten vermerkt ist. „Sehr viele flüchteten vor der Militärpflicht.“ Wer offiziell gehen wollte, musste im Preußischen Untertanenverband offiziell entlassen werden. In den meisten Ausreisanträgen wurden als Gründe kurz und knapp „besseres Fortkommen und sichere Existenz angegeben“.
Oft dauert es einige Wochen bis die die Reisepässe und Entlassungsurkunden ausgestellt waren. Manchmal ging es auch sehr schnell, wie bei Helene Graf, die im Alter von 27 Jahren am 9. August 1855 für sich und ihren beiden Kinder Karl (7) und Jakob (5) beim Kreuznacher Bürgermeister Küppers die Ausreise beantragte. Der stellte noch am gleichen Tag die Papiere aus, weil er „… die liederliche Dirne, welche durch ihren schlechten Lebenswandel öffentlich Anstoß und Ärgernis erregt“ aus der Stadt haben wollte. Trotz Überwachung gelang es ihr ohne Kinder, aber dafür mit ihrem Liebhaber, dem Ökonom Franz von Strobel, nach New York zu reisen. Die beiden Söhne kamen bei der Witwe Philipp Ernst in Pflegschaft.
Wer seine Heimat verlassen wollte, musste sich an einen Auswanderungsagenten, heute vergleichbar mit einem Reisebüro, wenden. In Kreuznach waren dies, um Mitte des 19. Jahrhunderts, Josef Stöck und Jacob Hessel. Sie buchten die Passagen. Die Auswanderer aus dem Kreis Kreuznach fuhren in der Regel nach Bingen und dann mit dem Schiff über Köln zu den Häfen nach Hamburg, Bremen, Rotterdam und Antwerpen, später dann mit Zug zu den Überseehäfen. Mit dem Segler dauerte die Überfahrt nach Amerika sechs bis acht Wochen, mit dem Dampfer vier Wochen und mit dem Schnelldampfer ab 1880 nur noch neun Tage. Die Preise für die Zwischendecks schwankten saisonal zwischen 30 und 80 Talern pro Person. Zum Vergleich: Ein einfacher Arbeiter verdiente 90 bis 120 Taler pro Jahr.
In dieser Lohnklasse lag vermutlich Theodor Schneider, der 1871 nach Amerika auswanderte und dort zu Wohlstand kam. Denn in einem der rund 20 Briefe, die er ab 1877 an seine Familie in der Fischergasse 6 schrieb, teilte er mit, dass er sich in Philadelphia drei Häuser gekauft habe. Theodor Schneider verdiente als gelernter Schlosser sein Geld als Instrumentenmacher. In Amerika heirate er eine Irin, die ebenfalls ausgewandert war, und hatte mit ihr zwei Kinder. 1933 starb er im Alter von 85 Jahren.
Seine Briefe sind immer noch im Besitz des deutschen Familienzweigs. Karl Schneider, der mit Ehefrau Eveline seit 1963 in Hargesheim wohnt, hat sie von seinem Vater übernommen. Sein Elternhaus in der Fischergasse 6 wurde Ende der 60er-Jahre abgerissen, Das Grundstück wird heute als Parkplatz für Bedienstete der benachbarten Stadtverwaltung genutzt.
Karl Schneider kann sich noch erinnern, dass die Verwandtschaft aus Amerika in den 50er-Jahren zu Besuch in Bad Kreuznach war. Seither gab es keinen Kontakt mehr. Die Briefe, die das Ehepaar Schneider für die Doktorarbeit Kesslers raugesucht hat, sind nun der Anlass, sich selbst auf Familiennachforschung in den USA zu begeben.
Wer noch Briefe von Auswanderern in seinem Besitz hat, kann sich gerne an Nicolas Kessler, Telefon 0151/44516488 oder unter E-Mail nico.kessler@gmx.net wenden.
Zusatz:
Die Stiftung Haus der Stadtgeschichte Bad Kreuznach hat in ihrer Vortragsreihe den Themenschwerpunkt „Auswanderung“. Der Sprachwissenschaftler Dr. Jürgen Eichhoff referiert über die „ Die Geschichte und das kulturelle Vermächtnis der deutschen Einwanderung nach Amerika am Donnerstag, 6. September, um 19 Uhr im Cafe Puricelli, Hüffelsheimer Str. 7. Der Eintritt ist frei.
Nicolas Kessler gibt am Donnerstag. 29. November, um 19 Uhr im Café Puricelli Einblicke in seine Doktorarbeit über die Auswanderer im Kreis Kreuznach.